„Schmerzen von Fall zu Fall angemessen begegnen“
Ganzheitlicher, umfassender Blick auf den Schmerz des Patienten

Dr. med. Carla Ávila González arbeitet seit Herbst 2018 an der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv- und Schmerzmedizin der Hessing Stiftung. Die hochqualifizierte Schmerzmedizinerin erweitert ihre Kompetenzfelder kontinuierlich, wann immer sie auf eine vermeintliche Grenze innerhalb der Schmerzmedizin stößt. Im Interview erklärt sie, was ihre Arbeit ausmacht und welchen Patienten sie wie helfen kann.

mehrbewegen: Sie übernehmen seit kurzem auch die Behandlung von, nach §4 des Ärztevertrages, durch die Berufsgenossenschaft (BG) unfallversicherte Patienten. Was bedeutet das?

Dr. med. Carla Ávila González: Die Berufsgenossenschaft (BG) ist der zuständige Kostenträger, wenn ein Patient einen Arbeitsunfall oder einen Unfall auf dem Arbeitsweg hatte. Sie übernimmt, anstelle der gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung, die Kosten. Die Unfallversicherungsträger sind verpflichtet alle Maßnahmen zu treffen, durch die eine möglichst frühzeitig, nach dem Versicherungsfall, einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung gewährleistet wird. Diese allgemeine Heilbehandlung darf ich ohne weiteres durchführen. Sollte der Patient eine besondere Heilbehandlung zur Schmerztherapie benötigen, dürfen Durchgangsärzte, also Ärzte, die Unfall-Patienten im Auftrag der BG betreuen, solche Patienten an mich weitervermitteln. Das heißt, Patienten bekommen einen Überweisungsschein und können einen Termin vereinbaren. Bisher war dies nur für Privat-Patienten oder Selbstzahler möglich, nun ist ein weiterer Schritt geschafft. Die Zulassung für die Behandlung von gesetzlich versicherten Patienten ist beantragt.

mehrbewegen: Was ist das Ziel, wenn Sie einen Patienten über den Durchgangsarzt überwiesen bekommen?

Dr. Ávila González: Ziel der speziellen Schmerztherapie ist es grundsätzlich, einen Weg zu finden, den Patienten zu rehabilitieren und die Wiedereingliederung in den Arbeitsalltag zu ermöglichen. Mein Ziel ist es, die Patienten dabei zu unterstützen und die richtigen therapeutischen Maßnahmen einzuleiten. Wie lange ein Patient von mir betreut wird, ist nicht von vornherein festgelegt. Ich habe Patienten, die nach wenigen Terminen rehabilitiert sind und ich die Therapie abschließen kann. Andere Patienten, die trotz Wiedereingliederung eine fortlaufende Schmerztherapie benötigen, begleite ich teilweise jahrelang. Die BG entscheidet schlussendlich, welche Maßnahmen erstattet werden und wie lange. Aus diesem Grund bin ich verpflichtet, entsprechende Beurteilungen und Berichte an die BG zu schicken. Anhand derer wird von der BG entschieden, ob eine Therapie erstattet wird.

Brand: Nach meinem Schulabschluss wusste ich nicht so richtig, was ich beruflich machen möchte. Daher habe ich zunächst in den Hessing Kliniken meinen Bundesfreiwilligendienst absolviert. In dieser Zeit war ich im OP eingeteilt. Diese Erfahrung war so toll, dass ich schließlich die Ausbildung gemacht habe.
Die Ausbildung besteht aus drei Schul-Blöcken im Jahr, die je fünf Wochen dauern. In jedem Block absolviert man bis zu acht Prüfungen und zusätzliche Ausarbeitungen. Die praktischen Blöcke sind zwischen zehn und zwölf Wochen lang. Begleitet werden Auszubildende von einem Ausbildungsleiter. Es hilft aber auch jeder andere im Team mit und bringt sich rund um die Ausbildung ein. In unserem Beruf kann man nicht alleine arbeiten – man muss teamfähig sein.

mehrbewegen: Wie muss ich mir den Ablauf als Patient vorstellen? Worauf muss ich mich einstellen?

Dr. Ávila González: Idealerweise ist es so, dass nach Überweisung zeitnah ein Termin vereinbart werden kann. Wenn ein Patient zum ersten Mal zu mir kommt, fordere ich über die BG sämtliche medizinischen Unterlagen an. Je umfassender diese Informationen sind, desto besser kann ich die Krankheitsgeschichte des Patienten einschätzen. Dazu gehören neben der Verletzungsanamnese, die bisherigen Therapieerfolge, wie auch Nebenwirkungen und Komplikationen.

Anschließend bekommt der Patient den Fragebogen der Deutschen Schmerzgesellschaft per Post zugeschickt. Es ist wichtig, dass ich ihn vor dem ersten Vorstellungstermin ausgefüllt zurück habe, damit ich die aktuelle Situation einschätzen kann. Dazu gehört zum Beispiel, welche Schmerzen der Patient aktuell hat und wie diese sich äußern. Ebenso wird der psychische Zustand erfasst. All das gibt die Basis für eine zielgerichtete Schmerztherapie und den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses.

Beim ersten Termin besprechen wir dann gemeinsam die bisherige Schmerzanamnese und ich nehme die klinische Untersuchung vor. Diese ist daher sehr ausführlich und kann mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Je nach Diagnose, kann ich beim ersten Termin bereits mit der Therapie beginnen.

mehrbewegen: Welche Krankheitsbilder kann man sich vorstellen, die Sie ambulant behandeln können?

Dr. Ávila González: Als Schmerzmedizinerin ist mein Behandlungsspektrum sehr breit. Bei BG-Patienten handelt es sich um Unfallfolgen. Oft haben die Patienten Nervenverletzungen durch Frakturen oder Schnittverletzungen. Einige Patienten haben auch als Operationsfolge Nervenverletzungen erlitten, die die Ursache der Schmerzen sind. Es gibt auch Patienten, die noch psychisch traumatisiert vom Unfallerlebnis sind. Hier kann es sein, dass die Schmerzen zwar ausreichend therapiert sind, aber die psychische Belastung noch so stark ist, dass eine Rückkehr in den Alltag und den Beruf nicht möglich ist. Das Gesamtbild ist in unserer schmerztherapeutischen Aufgabe sehr wichtig, da die Psyche das Schmerzempfinden stark beeinflusst. Da ich eine Weiterbildung in psychosomatischer Grundversorgung habe, behandele ich auch solche Patienten.

Jeder Patient mit Schmerzen kann zu mir kommen, egal welcher Ursache. Anhand von Anamnese und klinischer Untersuchung entscheiden der Patient und ich gemeinsam über die Behandlung. Voraussetzung ist allerdings, dass der Patient auch einen eindeutigen Therapiewunsch hat. Es kommt durchaus vor, dass ein Patient nur aufgrund einer Empfehlung oder auf Wunsch seiner Familie oder der BG kommt, selbst aber nicht therapiert werden möchte. Als Ärztin muss ich das erkennen und akzeptieren. Ich kann zwar therapeutisch vieles anbieten, doch nur wenn der Patient kooperiert, kann sich etwas verbessern.

mehrbewegen: Welche Gründe können noch gegen eine schmerztherapeutische Unterstützung sprechen?

Dr. Ávila González: Die Herausforderung in der Schmerztherapie ist, dass jeder Patient anders ist. Menschen reagieren unterschiedlich auf Medikamente, haben unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Schmerztherapie auszusehen hat und auch darüber, was sie ihrem Körper zumuten möchten. Diese Differenzierung ist von großer Bedeutung.

Wenn mir beispielsweise ein Patient sagt, dass er nur Naturheilverfahren akzeptiert und er alles andere ablehnt, schränkt das natürlich meine schmerztherapeutischen Möglichkeiten ein. Aber auch schwere Vorerkrankungen oder Allergien können das Therapieangebot erheblich einschränken. Es gibt auch für die Schmerzmedizin allgemeine Vorgaben, wie Leitlinien, die zu berücksichtigen sind. Manchmal sind die leitliniengerechten Therapien aber ausgeschöpft, sodass dann außerhalb der Leitlinien nach Optionen gesucht werden muss. Es gibt sogenannte Off-Label- Optionen, wie zum Beispiel die perineurale Botulinumtoxin- Injektion zur Behandlung neuropathischer Schmerzen. Hier hat der Hersteller für diese spezifische Anwendung keine Zulassung beantragt, daher die Bezeichnung Off-Label. Das heißt nicht, dass eine solche Therapie untersagt ist. Diverse Studien zeigen bereits, dass Botulinumtoxin die Ausschüttung von sogenannten Schmerzbotenstoffen reduziert. Es ist also eine Alternative, wenn andere Verfahren erfolglos waren. In diesen Fällen muss jedoch zuvor bei der Krankenkasse ein Antrag auf Kostenübernahme gestellt werden. In der Regel ist das erfolgreich, sobald alle leitlinienkonformen Wege ausgeschöpft wurden.

mehrbewegen: Was ist die größte Herausforderung in Ihrer Arbeit als Schmerzmedizinerin?

Dr. Ávila González: Die besondere Herausforderung besteht darin, den Patienten richtig einzuschätzen und dann entsprechend zu begleiten. Man muss erkennen, was dieser Patienten leisten kann und will. Beispielsweise muss ich einschätzen können, wie diszipliniert jemand ist, wenn es um die Einnahme von Medikamenten geht oder um die Einhaltung von Ernährungsvorgaben. Solche Faktoren beeinflussen die Therapieauswahl und den Erfolg erheblich und sind mit entscheidend, ob Medikamente hier überhaupt eingesetzt werden können.

Ein weiterer Aspekt ist, dass ich immer wieder auf bereits Erreichtes hinweisen muss. Viele Patienten vergessen, wie stark ihre Schmerzen zu Beginn der Behandlung waren. Beispielsweise gibt ein Patient, zu Beginn der Behandlung, auf der numerischen Schmerzskala von null bis zehn inaktivierende Schmerzen der Stärke acht in der verletzten Hand an. Durch die Therapie kann er die Hand wieder nutzen und schreiben, malen, sogar Rad fahren. Dennoch gibt er bei der Befragung weiterhin die Schmerzstärke acht an. Natürlich möchte man am liebsten völlig schmerzfrei sein, aber es ist schon ein beachtlicher Erfolg, wenn die Hand im Alltag wieder fast normal benutzt werden kann.

mehrbewegen: Was fasziniert Sie an Ihrem besonderen Beruf?

Dr. Ávila González: Der ganzheitliche umfassende Blick fasziniert mich, ebenso die Herausforderung für jeden individuellen Patienten eine zielgerichtete Therapie zu finden. Schmerzen sind bio-psycho-sozio-spirituelle Geschehen. Ich muss die Gesamtsituation im jeweils zeitlichen Ablauf betrachten und bedenken, in welcher Situation der Patient sich aktuell befindet. Es ist etwas ganz anderes, wenn ein Patient nach einer Operation einige Tage bei uns auf Station liegt und schmerztherapeutisch versorgt wird, oder wenn er sich nach Entlassung zu Hause selbst versorgen muss. In der Klinik achtet ein Team auf die korrekte Medikamenteneinnahme, zu Hause ist der Patient dafür selbst zuständig. Einige Patienten beenden oder verändern ihre medikamentöse Therapie ohne ärztliche Rücksprache, was einen dauerhaften Therapieerfolg gefährden kann.

Als ausgebildete Anästhesistin erlebe ich Schmerzen täglich. Als ich meine Ausbildung begonnen habe, habe ich eine klare Lücke zwischen der Schmerzausschaltung in der Anästhesie, also der Akutversorgung während der Operation und der post-operativen Versorgung im weiteren Verlauf auf der Station oder nach Entlassung aus der Klinik gesehen. Die akute postoperative Schmerztherapie beschränkt sich in der Regel auf kurzfristig anwendbare Verfahren, wie Regionalanalgesie-Techniken, z.B. „Schmerzkatheter“. Wenn es dann aber darum geht, Medikamente oder Therapien zur Schmerzbehandlung über einen längeren Zeitraum einzustellen, braucht es mehr Expertise. Es ist es mein Ziel, die gesamte Bandbreite der Schmerzmedizin zu verstehen, um entsprechend zielgerichtet behandeln zu können. Woher kommen Schmerzen, was unterhält sie, was bewirken sie im Patienten? All dieses fasziniert mich.

Mir gefällt auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Schmerzmedizin. In der Regel habe ich keinen Einzelbefund sondern mehrere: Schlafstörungen, hoher Blutdruck, Stoffwechselerkrankungen, Unverträglichkeiten, schlechte Erfahrungen mit Operationen – solche komplexen Zusammenhänge erfordern die Zusammenarbeit mit Kollegen anderer Disziplinen.

mehrbewegen: Was treibt Sie an?

Dr. Ávila González: Jeder Facharzt kann Schmerzmediziner werden. Man entdeckt jedoch immer wieder neue Grenzen und Herausforderungen in der eigenen Arbeit. Eine solche Herausforderung war für mich, zum Beispiel, die schmerzmedizinische Begleitung von Suchtpatienten unter Substitutionstherapie. Hier besteht häufig ein hoher Analgetikabedarf bei schwierigem psychosozialen Verhältnissen und schlechter Compliance. Bestimmte Analgetika, die leitliniengemäß zur Schmerzkontrolle eingesetzt werden, können mit der Zeit zu einer Abhängigkeit führen. Statt zu sagen: Ich betreue keine Suchtpatienten, habe ich mich in der suchtmedizinischen Grundversorgung weitergebildet.

Ein weiteres Beispiel ist, dass ich wiederholt Patienten im Finalstadium einer Krebserkrankungen behandelte. Auf Grund dessen habe ich die Weiterbildung in der Palliativmedizin absolviert, um auch diesen Patienten gerecht zu werden. Ebenso habe ich mich in Naturheilverfahren zur Schmerzmedizin weitergebildet, um Alternativen anbieten zu können. So motiviert mich jede Grenze, der ich begegne, bewusst neues Wissen zu erwerben, um dem Schmerz auf die Spur zu kommen.

mehrbewegen: Herzlichen Dank, Frau Dr. Ávila González!



DR. MED. CARLA ÁVILA GONZÁLEZ
HESSING KLINIK FÜR ANÄSTHESIE, INTENSIV- UND SCHMERZMEDIZIN